Jede Stunde zählt! Arbeitszeiterfassung ist Pflicht

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Von Dr. Philipp Brügge
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Jede Stunde zählt! Arbeitszeiterfassung ist Pflicht

Grundsatzentscheidung des BAG zur Arbeitszeiterfassung:

BAG entscheidet zur Pflicht von Arbeitgebern zu einer systematischen Arbeitszeiterfassung

„Der Arbeitgeber ist nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann“.

Quelle: Pressemitteilung Bundesarbeitsgericht vom 13.09.2022, 35/22 – Einführung elektronischer Zeiterfassung – Initiativrecht des Betriebsrats

Hintergrund: „Stechuhr-Entscheidung“ des EuGH aus 2019

Bereits im Jahre 2019 hatte der Europäische Gerichtshofs (EuGH) in der Rechtssache „Federación de Servicios de Comisiones Obreras (CCOO) ./. Deutsche Bank SAE“, C-55/18, festgestellt:

Arbeitgeber sind zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet

Arbeitgeber sind zur Erfassung der von ihren Beschäftigten im Rahmen ihres jeweiligen Anstellungsverhältnisses geleisteten täglichen effektiven Arbeitszeit verpflichtet.

Nach bisher geltendem Arbeitszeitrecht waren Unternehmen bisher ausschließlich verpflichtet die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu erfassen, soweit diese die werktägliche Arbeitszeit nach § 3 Arbeitszeitgesetz (ArbZG) überschreitet. Danach war erst ab Überschreitung der 8. Stunde die Erfassungsverpflichtung gegeben. Im Umkehrschluss bestand insoweit bisher keine gesetzliche Verpflichtung, die werktägliche Arbeitszeit von bis zu acht Stunden oder weniger zu erfassen.

Diese Einschränkung wurde nach der Entscheidung des EuGH im Jahre 2019 hinfällig. Die Richterinnen und Richter folgten damit der Empfehlung und den Schlussanträgen des Generalanwalts beim EuGH Giovanni Pitruzella.

Der Generalanwalt hatte dem EuGH in seinen Schlussanträgen vorgeschlagen, festzustellen, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, ein System zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit einzuführen.

Zur Begründung hatte der Generalanwalt darauf hingewiesen, dass es ohne ein solches System keine Garantie gebe, dass die von der Richtlinie 2003/88 festgelegten zeitlichen Beschränkungen tatsächlich eingehalten werden. Ein System zur Messung der tatsächlich geleisteten Arbeit und ihrer Lage sei erforderlich, damit Arbeitnehmer ihre Rechte, die ihnen die Richtlinie den Arbeitnehmern gewährt, ohne Hindernisse ausüben können.

Ohne ein solches System sei es nicht möglich, zwischen Stunden zu unterscheiden, die als Regelarbeitszeit oder als Überstunden geleistet wurden. In seiner zusammenfassenden Begründung hatte der Generalanwalt beim EuGH betont, dass eine Verpflichtung zur Messung der täglichen Arbeitszeit zudem eine wesentliche Funktion im Hinblick auf die Einhaltung aller anderen Verpflichtungen nach der Richtlinie 2003/88, wie z.B. die Einhaltung der Grenzen der täglichen Arbeitszeit, der tägliche Ruhezeit, der wöchentlichen Arbeitszeit sowie Ruhezeit und schließlich auch im Hinblick auf die etwaige Leistung von Überstunden, erfülle.

Dies diene als zentrales Element insbesondere auch dem

„Ziel des Schutzes der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz“.

Quelle: Schlussanträge des Generalanwalts Giovanni Pitruzella vom 31.01.2019, Rechtssache C-55/18, Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH Giovanni Pitruzella

Dem folgte der EuGH mit seiner Entscheidung aus 2019: Der EuGH wies dabei auf die Bedeutung des Grundrechts bezüglich der Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie der Einhaltung der täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten hin.

„Um die nützliche Wirkung der von der Arbeitszeitrichtlinie und der Charta verliehenen Rechte zu gewährleisten, müssen die Mitgliedstaaten dieArbeitgeber daher verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem dievon einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“.

Hieraus folge die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, dafür Sorge zu tragen, dass den Beschäftigten die ihnen verliehenen Rechte zugute kommen, ohne dass die zur Sicherstellung der Umsetzung der Richtlinie gewählten konkreten Modalitäten diese Rechte inhaltlich aushöhlen dürfen.

(Quelle: Pressemitteilung des Euopäischen Gerichtshofs Nr. 61/19, abrufbar unter: Mitgliedsstaaten müssen die Einführung eines Systems zur effektiven arbeitstäglichen Arbeitszeit regeln.).

Bundesarbeitsgericht überholt Gesetzgeber und schafft Tatsachen

Im Kontext eines Streits über die Reichweite der Kompetenzen des Betriebsrats im Rahmen der betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmung, namentlich über die Frage des Bestehens eines Initiativrechtes des Betriebsrates über die Einführung eines Systems zur elektronischen Arbeitszeiterfassung (grundsätzlich ein Regelungsgegenstand der betrieblichen Mitbestimmung gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG) entschied das Bundesarbeitsgericht nunmehr mit Beschluss vom 13.09.2022, Az.: 1 ABR 22/21:

„Der Arbeitgeber ist nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann.

Aufgrund dieser gesetzlichen Pflicht kann der Betriebsrat die Einführung eines Systems der (elektronischen) Arbeitszeiterfassung im Betrieb nicht mithilfe der Einigungsstelle erzwingen.

Ein entsprechendes Mitbestimmungsrecht nach § 87 BetrVG besteht nur, wenn und soweit die betriebliche Angelegenheit nicht schon gesetzlich geregelt ist„.

Quelle: Pressemitteilung Bundesarbeitsgericht vom 13.09.2022, 35/22 – Einführung elektronischer Zeiterfassung – Initiativrecht des Betriebsrats

Arbeitsschutzgesetz als gesetzliche Grundlage

Als gesetzliche Grundlage für die arbeitgeberseitige Verpflichtung zur Einführung eines Systems, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann, verweist das Bundesarbeitsgericht auf § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG).

Gemäß § 3 Abs. 1 ArbSchG ist der Arbeitgeber verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Er hat die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls sich ändernden Gegebenheiten anzupassen. Dabei hat er eine Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten anzustreben.

§ 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG konstatiert die Verpflichtung des Arbeitgebers, zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach Abs. 1 unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten „für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen“

Dies umfasse nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts auch die Messung und Erfassung der Arbeitszeit.

Entscheidung des BAG schafft Handlungsbedarf für Unternehmen

Die durch den EuGH bereits im Jahre 2019 vorgegebene Umsetzung in nationales Recht ist bis dato – zumindest im Arbeitszeitgesetz – nicht erfolgt. So arbeitet die Bundesregierung noch daran, die EuGH-Vorgaben von 2019 zur Einführung einer objektiven, verlässlichen und zugänglichen Arbeitszeiterfassung in deutsches Arbeitszeitrecht umzusetzen.

Die nunmehr verkündete Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 13.09.2022 zur arbeitgeberseitigen Verpflichtung zur Einführung einer systematischen Arbeitszeiterfassung dürfte somit weitreichende Auswirkungen auf bestehende Arbeitsmodelle wie z.B. die Vertrauensarbeitszeit haben. Zudem kommt der Entscheidung mit Blick auf die zunehmende Dynamisierung von Arbeit durch mobile Arbeit (Mobile Work) und auch die weiter fortschreitende Verbreitung der Erbringung von Arbeitsleistung im eingerichteten Homeoffice eine erhebliche Bedeutung zu. Für Arbeitgeber, die sich bisher nicht mit dem Thema auseinandergesetzt haben, besteht somit ein unmittelbarer Handlungsbedarf.

Zumal sich zumindest der Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts mit Blick auf die angeführte Bestimmung des Arbeitsschutzgesetzes weder zeitliche noch sachliche Einschränkungen der entsprechenden Verpflichtung entnehmen lassen. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts im Volltext bleibt mit Spannung abzuwarten.

Dr. Philipp Brügge

Rechtsanwalt Dr. Philipp Brügge LL.M. ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Gründungspartner der Hamburger Sozietät münchow commandeur brügge. Er vertritt Privatpersonen sowie institutionelle Mandanten in allen Bereichen des Arbeitsrechts sowie des Arbeitsprozessrechts.